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AutorenbildOliver Masch

Lese- und Hörbuchtipp „Der Tod des Iwan Iljitsch“ von Leo Tolstoi

Aktualisiert: 9. Dez. 2022


Die ergreifende Sterbensgeschichte des Richters Iwan Iljitsch lässt sich auch als tragische Liebesgeschichte lesen.


Wir erfahren eindrücklich, was geschehen kann, wenn wir uns in negative Beziehungsmuster verlieren: wir sind gereizt, werden aggressiv, sind wütend, ziehen uns zurück, sind hilflos, verzweifelt, ängstlich gleichgültig, kühl, distanziert usw.


Durch die Bindungsbrille betrachtet erleben wir in dieser Novelle ein Paar, das sich durch zunehmende Gleichgültigkeit und Gereiztheit voneinander entfremdet. Das alles macht Sinn, denn die Beziehung fühlt sich von mal zu mal unsicherer an! Der Boden unter den Füßen schwankt. Wie sollen sich Iwan Iljitsch und seine Frau verletzlich zeigen, wenn sich beide unverstanden fühlen? Das Risiko ist zu groß, und deswegen gehen beide in eine Schutzhaltung.

Auf einer tieferen Ebene sind dies verzweifelte Versuche, die eigenen Bindungsängste, den Trennungsschmerz zu kompensieren. Externe Auslöser für den angekurbelten Teufelskreis, das negative Beziehungsmuster sind berufliche, finanzielle und familiäre Veränderungen.


Ein Teufelskreis!


Klassisches Beziehungsmuster: Rückzügler und Verfolgerin

Iwan Iljitsch ist verunsichert. Er weiß nicht, wie er mit der zunehmenden Gereiztheit seiner Frau umgehen soll. Dahinter verbirgt sich vermutlich bei seiner Frau die Angst, ihn völlig zu verlieren, denn seine Arbeit nimmt nach und nach mehr Raum ein. Die Geburt der Kinder verschärft diese Situation. Er zieht sich nach und nach zurück. Hilflos versucht er dadurch die Beziehung aufrechtzuerhalten, während seine Frau immer gereizter wird.

Je mehr er seinen Schmerz zur Seite schiebt, desto häufiger verliert er sich in Machtphantasien, die er als Untersuchungsrichter „ausleben“ kann. Seine Mitmenschen müssen sich in erster Linie auf ihn einstellen, da sie sein Urteil fürchten. Dieses Machtgefälle vermittelt ihm ein Gefühl von Sicherheit, bis er die berufliche Position wechseln muss und seinen Einfluss verliert.


Die Aussicht auf einen hohen finanziellen Status kompensiert nun seine Angst, nicht zu genügen und alles, vor allem seine Frau, zu verlieren. Er findet eine entsprechende Stelle und verdient sehr gut. Tatsächlich gelingt es ihm durch die gemeinsame Einrichtung der neuen Wohnung, seine Beziehung wieder etwas zu beleben, bis er schließlich unerwartet erkrankt...


„Die Sehnsucht nach einer Beziehung, die sich sicher anfühlt, wird in all den Momenten deutlich, in denen wir die Zerbrechlichkeit unserer Existenz spüren." (Oliver Masch)

Nach und nach spürt auch Iwan Iljitsch diese Sehnsucht, als er plötzlich einen dumpfen Schmerz wahrnimmt, der ihn völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Anfangs erklärt er sich diesen Schmerz durch einen kleinen Unfall beim Einrichten des Wohnzimmers. Nun ist er es, der gereizt und erschöpft ist. Und seine Frau zeigt scheinbar wenig Interesse an seiner Gesundheit. Den Ärzten fühlt er sich völlig ausgeliefert, da es keine eindeutige Diagnose gibt. Eines ist jedoch bald klar: er wird sterben!


Durch die Konfrontation mit dem bevorstehenden Tod spürt er jene Sehnsucht nach Liebe, Trost und Anteilnahme. Er will gehalten werden, und erkennt, dass er seinem Leben eine völlig falsche Richtung gegeben hat. Iwan Iljitsch hat sich zu sehr von seinen Mitmenschen entfernt. Er schämt sich:


„Und wenn wirklich mein Leben nicht das richtige gewesen ist? Ihm kam der Gedanke, daß das, was ihm bisher noch als vollkommen unmöglich erschienen war: Er hätte so gelebt, wie er nicht hätte leben sollen – daß das die Wahrheit sei.“ (Leo Tolstoi „Der Tod des Iwan Iljitsch")

Die oben beschriebene Dynamik wird in der Erzählung „Der Tod des Iwan Iljitsch“ von Leo Tolstoi durch ein wesentliches Element verstärkt: die Zerbrechlichkeit unserer menschlichen Existenz. Tiefe Einschnitte wie Trennung, Verlust, Krankheit, Krieg, Tod, Arbeitslosigkeit, Flucht fallen uns sofort dazu ein. Es sind Extremsituationen, bei denen es oft ums „nackte Überleben“ geht. Die aktuelle Situation, der schreckliche Krieg in der Ukraine, bringt uns diese Zerbrechlichkeit brutal ins Bewusstsein. Krieg, Pandemie, Klimawandel - Die verunsicherte Gesellschaft - das war auch der Titel, der kürzlich gesendeten Talksendung „Unter den Linden“ auf Phoenix.


Der dargestellte Todeskampf von Iwan Iljitsch bringt uns ebenfalls zum Nachdenken über unsere eigene Zerbrechlichkeit. Was ist uns wirklich wichtig? Was kann uns Halt geben, wenn es uns schlecht geht?


Iwan Iljitsch kommt zu einer tiefen Einsicht, als er auf dem Sterbebett liegt: ein Dasein ohne Liebe führt in die Irre! Ein Realitätsverlust, der durch eine reduzierte Sicht auf Erfolg, Ansehen und Kontrolle ermöglicht wird.


Tolstoi zeigt in seinen Werken eine klare Haltung, wie wir diesen Teufelskreis durchbrechen können:


„Nur die Liebe vermag alle Knoten zu lösen.“ (Leo Tolstoi)

Liebe! Klar, aber wie wie?


Die oben beschriebene Sehnsucht nach einer „sicheren“ Beziehung schwingt bereits mit, wenn wir uns in den „kleinen“ Dramen und Tragödien des Alltags verfangen. Mal mehr, mal weniger. Wir spüren, dass etwas nicht stimmt oder tun so, als sei alles in Ordnung. Stoppen wir diesen Teufelskreis nicht, drehen wir uns solange im Kreis, bis es uns „schwindelig“ wird. Wir fallen dann irgendwann erschöpft zu Boden, weit von unserem Partner entfernt und verschließen uns.

Wenn uns klar wird, wie kostbar jeder einzelne Augenblick ist, können wir unseren Blick auf das richten, was uns wirklich erfüllt: auf unsere engen Beziehungen. (Oliver Masch)

Auch in erfüllten Partnerschaften gibt es Teufelskreise.


Glückliche Paare sagen sich: „Mist, die Verbindung ist fehlgeschlagen!“ Es ist ihnen wichtig, eine gute Verbindung herzustellen, damit sie sich gestärkt und akzeptiert fühlen. Erst dann ist es im Grunde möglich, sich gut miteinander abzusprechen, gemeinsam zu planen, den anderen besser zu verstehen und zuversichtlich in die Zukunft zu schauen.

Wir machen manchmal jedoch die „dollsten Dinge“, wenn diese Verbindung fehlt. Vielleicht hast du dich schon mal selbst dabei ertappt! Teufelskreise können, wie wir in Tolstois Erzählung gesehen haben, außer Kontrolle geraten. Die emotionale Verbindung wird sozusagen von Sekunde zu Sekunde schlechter. Dies können Paare frühzeitig verhindern, indem sie den Teufelskreis erkennen und gemeinsam durchbrechen. Emotionsfokussierte Paartherapie kann dabei helfen, die Knoten der negativen Beziehungsmuster zu lösen!



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